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27. Juli 2022
Redaktion

Es geht nur gemeinsam: Compliance und diabetisches Fußsyndrom

[ABO] Vier von fünf Fuß-Amputationen könnten laut aktuellem Gehwol Diabetes-Report verhindert werden. Voraussetzung hierfür ist eine ausreichende Patienten-Compliance sowie eine umfassende Aufklärung über mögliche Risiken. Die Crux: Auch heute ist es mehr als einem Drittel der Menschen mit Diabetes nicht bewusst, dass sie den Füßen besondere Aufmerksamkeit schenken sollten. Über Therapietreue beim diabetischen Fußsyndrom (DFS) berichtet Orthopädin Renate Wolansky.



Foto: Andrey Popov/AdobeStock

Als häufige Folgeerscheinung des Diabetes mellitus kann sich aufgrund der Stoffwechselstörung ein diabetisches Fußsyndrom (DFS) entwickeln, wodurch schwere Schäden am Fuß entstehen können. Die Auslöser sind multifaktoriell: Interne Faktoren sind Schädigungen der peripheren Nerven (Polyneuropathien) und Schädigungen der peripheren Gefäße (Angiopathien). Äußere Einflüsse sind Zehen- und/oder Fußdeformitäten, erfolgte chirurgische Interventionen am Fuß, Bagatelltraumata, Barfußgehen, ungeeignetes Schuhwerk und/oder Strümpfe aus Synthetik-Material oder deren Innennähte.

Bei der Prävention und optimalen Versorgung ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit der verschiedenen Fachbereiche, das heißt zwischen Diabetolog*innen, Orthopäd*innen, Chirurg*innen, Neurolog*innen, Orthopädieschuhmach*innen, Podolog*innen und auf Diabetes spezialisierten Fachkräften sowie gegebenenfalls Psycholog*innen und den Krankenkassen zwingend erforderlich. Oberste Priorität hat dabei eine optimale orthopädieschuhtechnische Versorgung, um drohende Druckstellen, Hyperkeratose, Rhagaden mit Infektionsgefahr, Ulzera, Nekrosen, Gangrän und letztlich eine Amputation am Fuß zu verhindern. Trotz seiner vielfältigen Symptome lässt sich das DFS anhand seiner Ursachen wie folgt differenzieren:

  • neuropathischer Fuß oder symmetrische diabetische Polyneuropathie, also eine periphere Nervenschädigung in beiden Füßen mit sensiblen, motorischen und autonomen Störungen;
  • ischämischer Fuß oder diabetische Angiopathie (periphere arterielle Verschlusskrankheit [pAVK]);
  • neuropathisch-ischämische Genese.

FALLBEISPIEL: FEHLENDE COMPLIANCE BEIM DFS

Es handelt sich um einen 72 Jahre alten, insulinpflichtigen Diabetiker Typ II mit diabetischem Fußsyndrom. Trotz mehrfacher Aufklärung vom Diabetologen, Chirurgen und Orthopäden sowie Tipps und Hilfestellungen vom Podologen und Orthopädieschuhmacher zu den notwendigen verordneten und gefertigten orthopädieschuhtechnischen Hilfsmitteln und zur Lebensweise besteht eine permanente Inkompetenz des Betroffenen. Er zeigt seit Jahren weder die Einsicht zur chronischen Glukosestoffwechselkrankheit und seinen schwer geschädigten Füßen noch die notwendige Bereitschaft zu einer erforderlichen Kooperation im gesamten Behandlungsprozess. Wichtige Schulungen lehnt der Betroffene ab. Sehr unregelmäßig und uneinsichtig nimmt er an podologischen Behandlungen und Arztkonsultationen teil. Wichtige Empfehlungen zur weiteren Risikominimierung werden missachtet (Abb. 1–3).

Klinische Symptomatik

Diabetische Polyneuropathie

Typisch sind bei oberflächlicher Empfindungsstörung Parästhesien (Missempfindungen) wie lästiges Kribbeln, „Ameisenlaufen“, Brennen und/oder ein Taubheitsgefühl in den Füßen, die besonders nachts verstärkt auftreten und den Nachtschlaf unterbrechen. Sensible Störungen betreffen eine gefährliche Reduzierung oder Aufhebung des Schmerzempfindens, weiterhin des Druck- und Temperaturempfindens. Eine Störung der Tiefensensibilität äußert sich in einem minimierten oder aufgehobenen Vibrationsempfinden.{pborder}

Bei motorischen Störungen kommt es zur Insuffizienz bis hin zur Atrophie der Fußmuskulatur mit Muskeldysbalancen und gegebenenfalls zur Abschwächung bis Aufhebung der Muskeleigenreflexe an den unteren Extremitäten – zum Beispiel des Achillessehnen- (ASR) und/oder Patellarsehnenreflexes (PSR). Autonome Störungen lösen eine Verminderung oder Aufhebung (Anhidrose) der Schweißsekretion am Fuß aus, die zur trockenen Haut und damit zur Hyperkeratose und Rhagaden mit Infektionsgefahr führen kann. Ferner besteht eine Neigung zur Onychomykose. Bei alleiniger diabetischer Polyneuropathie ist zu beachten, dass die Haut des Fußes rosig ist und sich warm anfühlt. Die Fußpulse sind erhalten.

1a – c  Zustand nach totaler Zehenamputation rechts mit massivem Ulkus und links Amputation der 1., 2. und 4. Zehe und Ulkus, beiderseits in der plantaren Vorfußregion. Fotos: Renate Wolansky

Ischämischer Fuß

Risikofaktoren sind besonders Nikotinabusus, ungesunde Ernährung und Lebensweise sowie Bewegungsmangel bei Diabetes mellitus. Es kann außerdem eine genetische Disposition vorliegen. Betroffene klagen über kalte Füße. Die pergamentartige atrophische Haut der Füße erscheint blass bis bläulich (livide) verfärbt. Die Fußnägel sind oftmals auffallend verdickt. Schmerzen beim Gehen bis zu Wadenkrämpfen lassen nach kurzen Ruhepausen zum Beispiel beim Stehen vor einem Schaufenster nach und nehmen bei erneuter Belastung wieder zu. Umgangssprachlich wird das Krankheitsbild auch „Schaufensterkrankheit“ genannt.

Da bei der pAVK das Gewebe nicht ausreichend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt wird, sind häufig Wundheilungsstörungen, die vom Ulkus (Malum perforans) über trockene Nekrosen bis hin zu Gangrän führen können, die Folge. Die Fußpulse sind meist abgeschwächt oder fehlen gänzlich. Der Knöchel-Arm-Index (Ancle-Brachial-Index, ABI), mit dessen Hilfe sich der Schweregrad einer bestehenden pAVK bestimmen lässt, liegt meistens unter 0,8 (Normalwert > 0,9).

Prävention durch geeignetes Schuhwerk

Eine Optimierung bei der Schuhversorgung der oder des Betroffenen mit DFS ist durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen behandelnder Ärztin beziehungsweise behandelndem Arzt, die oder der die Verordnung ausstellt und das Hilfsmittel überprüft, Orthopädieschuhmacher*in, Podolog*in und Patient*in erreichbar.

Zu den Aufgaben der oder des Betroffenen gehören nicht nur die regelmäßige tägliche Inspektion der Füße – auch der Fußsohle mit einem Spiegel – auf Hautveränderungen wie Druckstellen, Hyperkeratose, Rhagaden oder Verletzungen, sondern auch die Betrachtung und Beurteilung der Schuhe. Fehlbelastungen aufgrund von Zehen- oder Fußdeformitäten hinterlassen mehrheitlich markante Ablaufspuren an der Laufsohle und im Schuh­inneren auffällige Scheuer- oder Abriebstellen. Des Weiteren weisen Sekret- oder Blutabsonderungen im Schuh auf Fußbettungen oder Socken auf Hautläsionen hin.

Um die Folgen eines diabetischen Fußsyndroms zu verhindern, hat neben der unverzichtbaren regelmäßigen podologischen und konsequenten häuslichen Fußpflege, mithilfe von Tipps vom Fußprofi, die orthopädieschuhtechnische Versorgung oberste Priorität.

Ungeeignetes Schuhwerk – zu eng, zu spitz, zu kurz, zu hoch – oder unpassendes, nicht atmungsaktives Material, das leider trotz Aufklärung häufig vor allem im häuslichen Umfeld verwendet wird, sollte für Menschen mit Diabetes und Risikofüßen tabu sein. Denn daraus resultieren besonders bei vorliegender Polyneuropathie die meisten nicht-spürbaren Fußverletzungen.

2  Alte unpassende orthopädische Sandalen und die vom Betroffenen aus- und abgeschnittenen diabetesadaptierten Fußbettungen. Foto: Renate Wolansky

Im gesamten Versorgungsprozess und für ein erfolgreiches Therapieergebnis spielt die Compliance der oder des Betroffenen eine tragende Rolle. Einen Unwillen beziehungsweise eine Inkompetenz zu orthopädieschuhtechnischen Hilfsmitteln zeigt das Fallbeispiel im Kasten (Abb. 1–3).

Die Schuhversorgung bei einem DFS erfolgt nach den Leitlinien der vorliegenden Risikoklassen und Stadieneinteilung (Risikogruppe 0 bis VII (VII schwerstes Stadium mit temporärer Versorgung, DNOAP, diabetische Neuro-Osteo-Arthropathie oder diabetischer Charcotfuß).

3  Detailbilder der selbst improvisierten Fußbettungen des Betroffenen im Fallbeispiel. Fotos: Renate Wolansky

Ziel der Versorgung ist es, Menschen mit Diabetes und drohendem diabetischen Fußsyndrom mit geeignetem Schuhwerk entsprechend dem vorliegenden Stadium zu versorgen.

Hinweise zum Schuhwerk

Im Vordergrund einer zweckmäßigen orthopädieschuhtechnischen Versorgung beim DFS steht die Reduzierung von bestehenden Druckspitzen an der Fußsohle, die schwere Folgen haben können. Zur genauen Erfassung von Druckmaxima dient die dynamische Pedografie, die vor und nach der orthopädieschuhtechnischen Versorgung erfolgen sollte (Abb. 4a–d).

4a+b  Dynamische Pedografie bei einem 69 Jahre ­alten Diabetiker Typ II mit DFS: Vor der orthopädieschuhtechnischen Versorgung bestehen deutliche Druckmaxima in der Region beider Fersen und im medialen Vorfuß. Fotos: Renate Wolansky

4c+d  Dynamische Pedografie bei einem 69 Jahre alten Diabetiker Typ II mit DFS: Nach der Versorgung mit diabetesadaptierten Fußbettungen und orthopädischen Maßschuhen sind die Druckspitzen mithilfe einer Druckumverteilung an der Fußsohle beseitigt. Fotos: Renate Wolansky

Zur Druckentlastung dient eine individuell gefertigte diabetesadaptierte Fußbettung, die sowohl in Konfektionsschuhen, Diabetesschutzschuhen oder orthopädischen Maßschuhen integriert wird.

Bei Hautläsionen oder tiefen Ulzera kommen Verbandschuhe, Entlastungsschuhe, Innenschuhe oder Orthesen im orthopädischen Maßschuh mit diabetesadaptierten Fußbettungen und orthopädischen Schuhzurichtungen wie Sohlenversteifung, Rollen (Ballen-, Mittelfuß- sowie Schmetterlingsrolle, Schuhbodenverbreiterung, Abpolsterungen der Lasche oder Fersenkappe) infrage.

Abhängige Faktoren einer notwendigen Compliance bei Diabetes mellitus

  • hohes Alter mit Einschränkungen geistiger Fähigkeiten
  • Persönlichkeit
  • angemessene Lebensweise
  • Einsicht zur chronischen Erkrankung Diabetes mellitus und seinen möglichen Folgen
  • Leidensdruck der oder des Betroffenen
  • positive Arzt-Patienten-Beziehung
  • Bereitschaft zur Kooperation eines interdisziplinären Behandlerteams betreffs diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen
  • gutes Vertrauensverhältnis zum*zur Orthopädieschuhmacher*in, Podolog*in und weiteren auf Diabetes spezialisierten Fachkräften
  • Therapietreue wie Teilnahme an podologischen Behandlungen, tägliche gewissenhafte häusliche Fußpflege unter Berücksichtigung notwendiger Empfehlungen, konsequentes Einhalten von vorgegebenen Konsultationen bei der Ärztin oder dem Arzt und bei Schuhproblemen bei der*dem Orthopädieschuhmacher*in, Aufklärung durch Schulungen, kontinuierliche Nutzung der verordneten orthopädischen Hilfsmittel

Der individuelle Krankheitsverlauf, Therapieerfolg und Vermeidung von Folgen sind abhängig von einer guten Stoffwechseleinstellung, Motivation und Selbstmanagement der oder des Betroffenen sowie von einem guten sozialen Umfeld und psychologischer Anpassung. Non-Compliance, wie im Fallbeispiel dargestellt, minimiert den Therapieerfolg und kann zu schwerwiegenden Folgen führen.

Autorin

Orthopädin Dr. Renate Wolansky
Luisenstraße 26
06618 Naumburg

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