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17. Mai 2017
Klaus Grünewald
Varus-Stellung des Vorfußes

Muskulär bedingt oder falsch gedreht?

Die Varus-Stellung des Vorfußes entsteht durch eine nicht abgeschlossene beziehungsweise unvollkommene Drehung des Talus. Diese Begründung wird in neuerer Zeit angezweifelt. Klaus Grünewald stellt zwei Studien vor, die sich mit der Ursachenfindung erneut beschäftigt haben.
Bild: Klaus Grünewald
1 Darstellung einer Vorfuß-varus-Stellung an einer Zeichnung des linken Fußskeletts. Ansicht von hinten (posterior).

Eine Vorfuß-varus-Fehlstellung ist – nach allgemein geltender Definition – eine strukturell (knöchern) bedingte Anomalie des Fußes. In Bezug zur senkrechten Mittellinie der Ferse (Calcaneus) zeigt die Ebene der Mittelfußköpfchen des Vorfußes in der Frontal-Ebene zur Mitte hin (invertiert).

Ohne Kompensation (z. B. Ausgleich durch die Fersenstellung) ist ein Vorfuß-varus nur im unbelasteten Zustand erkennbar. Bei der Ganganalyse würde durch die Körperbelastung eine mehr oder weniger deutlich ausgeprägte Pronation des Fußes zu sehen sein.

Dies kann während des Gehens – durch die vermehrte Kniegelenk-Drehung in Verbindung mit einer höheren lateralen Zugbelastung der Kniescheibe (Patella) – zu Beschwerden führen.

Debatte über die Entstehung

Obgleich die biomechanischen Folgen einer Vorfuß-varus-Fehlstellung bekannt sind, wird über den anatomischen Ursprung dieser Fußdeformität seit Jahrzehnten debattiert.

In einer Veröffentlichung aus dem Jahr 1927 stellt der Amerikaner W. Straus [1] die Vermutung an, dass der Ursprung der Vorfuß-varus-Fehlstellung in einer Störung der fetalen Fußentwicklung zu finden sei. Er führte dies auf das Ausbleiben der Valgus-Drehung (nach Außen Drehung) um die Längsachse des Sprungbeinkopfes und -halses zurück. Diese Drehung gehört zur normalen Fußentwicklung beim Fetus und ist in den ersten Lebenswochen des Säuglings noch nicht abgeschlossen. Sie bildet sich allmählich in den ersten Lebensjahren zurück.

In Berufung auf diese Theorie ist deshalb der Ursprung für eine Vorfuß-varus-Fehlstellung bei Erwachsenen in einer unvollständigen Valgus-Torsion des Sprungbeinkopfes und -halses während der Fetalen Entwicklung zu ­sehen.

Diese Erklärung über eine nicht abgeschlossene beziehungsweise unvollkommene Drehung des Talus – zur Begründung der Ursache einer Varus-Stellung des Vorfußes – wurde in neuerer Zeit angezweifelt.

Foto: Klaus Grünewald
2 Typische nach innen (zur Mittellinie des Körpers) zeigende rechte Fußinnenfläche des Säuglings.

Zweifel kommen auf

Praxiswissen

Dieser Zweifel wurde erstmals in einer Studie von T. McPoil et al. [2] aufgegriffen. Er hat den Zusammenhang zwischen einer ausgebliebenen Valgus-Torsion des Talus in Verbindung mit der Vorfuß-varus-Fehlstellung bei Erwachsenen hinterfragt. Zu der Untersuchungsmethode ist anzumerken, dass McPoil die Winkelstellung des Vorfußes nicht gemäß biomechanischer Standardmethoden (nach M. Root, W. P. Orien und J. H. Weed) gemessen, sondern lediglich die Gipsabdrücke von 20 anatomischen Präparaten der Füße verwendet hat.

Durch die indirekte Ermittlung der Winkelstellung des Vorfußes kann die Genauigkeit und Gültigkeit der Erkenntnisse beeinträchtigt sein, weil sie nicht direkt vom Fuß, sondern von dessen Gipsmodell genommen wurde.

Die zweite Studie (von Rebecca S. Lufler et al.) unterscheidet sich von ­McPoil durch eine andere Messung der Vorfuß-Stellung. In dieser Studie wurde die am häufigsten angewandte Messung zur Bestimmung der Vorfuß-Stellung angewandt, die von Root et al. im Jahr 1977 beschrieben wurde. Außerdem enthält sie mehr als doppelt so viele anatomische Präparate (n = 49 Füße) als McPoil.

Beide Studien hinterfragten, in wieweit die klinischen Messungen der Vorfuß-varus-Stellung bei Erwachsenen mit der Theorie einer ausgebliebenen knöchernen Drehung (Valgus-Torsion) des Fußes beim Fetus beziehungsweise im Säuglingsalter übereinstimmen.

In der Untersuchung besaßen alle anatomischen Präparate genügend Mobilität, um den Grad der Vorfuß-Stellung zu messen. Ebenso konnten die Winkel über die Drehung (Torsion) des Sprungbeinkopfes und -halses bestimmt werden.

Angewandte Methoden

Ermittlung der Neutralstellung und der Vorfuß-Stellung

Das obere Sprunggelenk wurde in eine 0° Dorsalextension gebracht (nahezu rechtwinkelige Stellung des Fußes zum Unterschenkel). Der Patient befand sich in Bauchlage.

Zwischen Daumen und Zeigefinger wurden das 4. + 5. Metatarsal-Köpfchen des Fußes gehalten und mit der gegen-über liegenden Hand mit Daumen und Zeigefinger der Sprungbeinkopf medial und lateral ertastet. Der Fuß wurde dann von der Eversion in die Inversion bewegt bis die mediale und laterale Kante des Talus  mit dem Fersenbein deckungsgleich (kongruent) lag. Anschließend wurde die Vorfuß-Stellung in Bezug zur Mittellinie der Ferse gemessen. Der feste Arm des Goniometers verlief dabei im rechten Winkel zur Mittellinie der Ferse und der bewegliche Arm wurde an­schlie­ßend zur Ebene der Mittelfuß­köpf­chen (Metatarsal-Köpfchen) ausgerichtet. Die Vorfuß-Stellung wurde mit dem Goniometer bis auf 0,5° Genauigkeit gemessen.

Messung der Talar-Torsion (Methode nach McPoil et al.)

Der Talus (das Sprungbein) wurde aus den anatomischen Präparaten (n = 49) vollständig herausgeschnitten. Aufgabe war es, eine eventuell nicht abgeschlossene (Valgus)-Drehung des Sprungbeinkopfes und -halses in der Frontal-ebene messbar zu machen. Hierzu wurde ein Mittelpunkt am Sprungbeinkopf und ein Mittelpunkt auf der Talus Rolle (Trochlea tali) bestimmt und markiert.

Für die Horizontallinie wurde ein Winkelmesser an der linken und rechten Seite des Talus in gleicher Höhe angelegt. Jeder Talus konnte auf seiner Unterlage mit einem modellierbaren Material fixiert werden. Ein Lineal diente anschließend dazu eine exakte Horizontallinie über die Talus Rolle zu ziehen.

Der bewegliche Arm des Goniometers wurde an der markierten Mittellinie des Talus-Kopfes angelegt. Die Talar-Torsion wurde als Winkel zwischen dem beweglichen Arm des Goniometers und dem horizontal verlaufenden festen Arm des Goniometers (Parallel zur Mittellinie der Sprungbein-Rolle) gemessen. Das Messergebnis betrug bis zu 0,5° Genauigkeit (Abb. 3).

Da öfters Bedenken über die Reproduzierbarkeit einiger biomechanischer Messungen geäußert wurden, sind die Messungen dreimal wiederholt worden.

In den Auswertungen der Untersuchung gab es keine eindeutige Abhängigkeit zwischen der Vorfuß-varus-Stellung und einer davon beeinflussten fehlenden knöchernen Talar-Torsion. Aus diesem Ergebnis ist zu schließen, dass die Theorie über den Vorfuß-varus, der durch eine knöcherne Deformität des Talus entstanden ist, nicht korrekt sein kann.

Bild: Klaus Grünewald
3 Sprungbeinskizze (rot umrandet) mit angedeutetem Fußumriss ohne Zehen von oben (proximal) gesehen. In der vereinfachten Zeichnung wurde der Mittelpunkt der Sprungbeinrolle (Trochlea tali) sowie des Sprungbeinkopfes (Caput tali) durch im rechten Winkel stehende Hilfslinien (grün) ermittelt. Die Verbindungslinien durch die Mittelpunkte (schwarz) ergeben einen Winkel von 84° (= 6°-Neigung). Diese, mit geringen Abweichungen auch bei den Präparaten der Studie gefundenen Winkelwerten, deuten an, dass die Knochen des Sprungbeins eher eine Valgus- als eine Varus-Torsion zeigen.

Zusammenfassung

Die erwähnten Studien sind nach meinem Wissen die ersten, welche der lang geltenden Auffassung widersprechen, dass die Vorfuß-varus-Fehlstellung einen knöchernen Ursprung besitzt. Absolute Klarheit über den Ursprung dieser Deformität vermitteln sie aber auch nicht, weil begleitende Kontrolluntersuchungen fehlen.

Bislang mag die Vorfuß-varus-Fehlstellung durch das Tragen einer geeigneten Orthose beziehungsweise Einlage behandelt worden sein. Sie wurde im Wesentlichen mit einem medialen Vorfuß-Keil versehen der den Vorfuß in seiner Varus-Stellung unkompensiert bestätigte. Bei Beschwerden durch die Fehlstellung half dies oft mehr, als zum Beispiel eine operative Korrektur. Wenn jedoch die Varus-Fehlstellung eine muskelbedingte Ursache hat, wäre eine stützende Orthose beziehungsweise Einlage weniger geeignet.

Eine optimale Behandlung des Vorfuß-varus würde stattdessen aus einer schrittweisen Stärkung der Muskulatur bestehen, die die Bewegung des Vorfußes zur Pronation hin fördert.

Ausblick

Die Ergebnisse beider Studien (Rebecca S. Lufler und McPoil) liegen in ihren Aussagen sehr nah beieinander. Keine dieser Studien stellte eine ausgebliebene Valgus-Torsion des Talus in Verbindung mit einer Vorfuß-varus-Stellung des Fußes fest.

Die Untersuchungsergebnisse unterstützen folglich die Theorie, dass der Ursprung der Vorfuß-Deformität eher in der muskulären Dysbalance, als in einer knöchernen Deformität zu suchen ist. Um die Fehlstellung auszugleichen, wäre die Aktivierung der dafür in Frage kommenden Muskulatur sinnvoller, als eine korrigierende beziehungsweise entlastende Maßnahme durch eine angepasste Orthose oder Einlage. Für die Zukunft ist weitere Forschung notwendig, um die Ursachen veränderter Fußstellungen zu erkennen, die sich dann nachhaltig – zu Gunsten des Patienten – auswirken könnten. «

Literatur
  • Rebecca S. Lufler et al. „Anatomical Origin of Forefoot Varus Malalignment”, Journal of the American Podiatric Medical Association, Volume 102/5 (2012)
  • [1] W. Straus “Growth of the human foot and his evolutionary significance”, Contribution to Embryologie, 101:93 (1927)
  • [2] T. McPoil, J. A. Cameron, M. J. Adrian “Anatomical characteristics of the talus in relation to forefoot deformities”, Journal of the American Podiatric Medical Association; 77:77 (1987)
  • Klaus Grünewald, „Theorie der medizinischen Fußbehandlung, Band 3 – Podologische Biomechanik“, Verlag Neuer Merkur, Planegg (2014) ISBN: 978-3-95409-013-6
Literatur
  • Rebecca S. Lufler et al. „Anatomical Origin of Forefoot Varus Malalignment”, Journal of the American Podiatric Medical Association, Volume 102/5 (2012)
  • [1] W. Straus “Growth of the human foot and his evolutionary significance”, Contribution to Embryologie, 101:93 (1927)
  • [2] T. McPoil, J. A. Cameron, M. J. Adrian “Anatomical characteristics of the talus in relation to forefoot deformities”, Journal of the American Podiatric Medical Association; 77:77 (1987)
  • Klaus Grünewald, „Theorie der medizinischen Fußbehandlung, Band 3 – Podologische Biomechanik“, Verlag Neuer Merkur, Planegg (2014) ISBN: 978-3-95409-013-6
Literatur
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