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11. November 2022
Redaktion

Diabetes-Risiko: „Jedes Kilo weniger hilft“

Diabetes ist eine tickende Zeitbombe: Wird die Krankheit nicht frühzeitig erkannt, drohen dramatische Folgeschäden. Ralf Jung, Chefarzt der Diabetologie im DGD Krankenhaus Sachsenhausen, erläutert, warum das so ist – und was hilft.



Grafik: Cornelia Meier/C. Maurer Fachmedien

Am 14. November ist Weltdiabetestag. Zu diesem Anlass erläutert Ralf Jung, Chefarzt der Diabetologie am DGD Krankenhaus Sachsenhausen in Frankfurt – der seinerzeit ersten Fachklinik für Diabetes in Europa – im Interview nicht nur, warum die Krankheit so gefährlich ist – sondern zeigt auch auf, welche neuen Behandlungsmethoden den Patienten Hoffnung geben.

Herr Jung, warum spricht man von der „Volkskrankheit Diabetes“?
Ralf Jung: Weil inzwischen rund zehn Prozent der Deutschen an Diabetes erkrankt sind – also etwa 8,5 Millionen Personen. Zudem gibt es eine große Dunkelziffer von etwa zwei Millionen Menschen hierzulande, die noch gar nicht wissen, dass sie erkrankt sind. Dabei gibt es durchaus regionale Unterschiede: In den östlichen Bundesländern liegt die Zahl der an Diabetes Erkrankten bei deutlich mehr als zehn Prozent, wie Krankenkassendaten zeigen. Woran das liegt, darüber können wir derzeit nur spekulieren – vielleicht an einem anderen Ernährungs- und Freizeitverhalten.

Die Dunkelziffer ist hoch. Warum ist Diabetes so schwer zu erkennen?
Weil die Krankheit im frühen Stadium keine Symptome verursacht und damit nicht zu erkennen ist. Häufig wird Diabetes als Zufallsbefund beim Hausarzt festgestellt, wenn etwa beim Routine-Check-up eine Blutuntersuchung vorgenommen wird. Denn dabei wird auch der Blutzuckergehalt untersucht. So bekommen viele Menschen die Diagnose, obwohl sie eigentlich keine Beschwerden hatten.

Gibt es dennoch Anhaltspunkte, bei denen man hellhörig werden sollte?
Klassische Symptome sind ein verstärktes Durstgefühl, wodurch die Leute dann mehrere Liter pro Tag trinken. In der Folge kommt es zum gehäuften Wasserlassen. Bei manchen wird auch das Sehvermögen schlechter oder sie fühlen sich schlapp und müde. Doch wenn diese Symptome auftreten, ist der Blutzucker schon deutlich erhöht, die Werte liegen dann über 250 mg/dl – normal ist ein Wert zwischen 70 und 140. Wer also die beschriebenen Symptome feststellt, der sollte umgehend handeln und seinen aktuellen Blutzuckerwert bestimmen lassen, etwa in der Apotheke oder beim Hausarzt. Dort kann auch der Langzeitwert bestimmt werden, der Auskunft darüber gibt, wie die Blutzuckerwerte in den vergangenen drei Monaten waren.

Was ist der Unterschied zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetes?
Typ 1 ist eine Autoimmunerkrankung, bei der der Körper Immunzellen bildet, die genau gegen die Beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse reagieren, die das körpereigene Hormon Insulin herstellen. Im Laufe der Jahre nimmt die Zahl der Beta-Zellen durch die permanente Zerstörung ab – es wird kein Insulin mehr hergestellt, der Blutzucker steigt stark an. In der Folge müssen Erkrankte Insulin von außen zuführen, es gibt keine andere Behandlung. Oft sind davon schon Kinder und Jugendliche betroffen, Typ-1-Diabetes kann aber auch im Erwachsenenalter noch auftreten.

Typ-2-Diabetes wurde früher als „Altersdiabetes“ bezeichnet, weil insbesondere Ältere betroffen sind . Aber mittlerweile sind auch immer mehr junge Erwachsene davon betroffen. Gründe dafür sind einerseits genetische Grundlagen – die aber alleine nicht die Ursache sind. Im Zusammenspiel mit einer ungünstigen Ernährung und zu wenig Bewegung steigt das Diabetes-Risiko dann stark an.

„Altersdiabetes“ ist also gar nicht mehr der richtige Ausdruck?
Nein, die Krankheit zieht sich durch alle Altersgruppen. Bei jungen Menschen nimmt die Krankheit jedoch deshalb zu, weil sich das Ernährungsverhalten stark verändert hat. Kalorienreiche Nahrung wie Fast-Food ist jederzeit verfügbar, Soft- und Energy-Drinks haben viel Zucker. Das gepaart mit einer Freizeit, die häufig mit Computer- oder Konsolenspielen oder am Handy verbracht wird – und mit wesentlich weniger Bewegung, als früher – sind eine schlechte Kombination.

Müssen auch Typ-2-Diabetiker Insulin spritzen?
Nein, zumindest nicht im Anfangsstadium der Erkrankung, eventuell ist nach langjährigem Verlauf eine Insulintherapie erforderlich. Eine gesunde Ernährung mit vielen Ballaststoffen, Gemüse und Salaten sowie wenig Zuckerprodukten oder Fetten helfen. Zudem sollte man bei Übergewicht versuchen, wieder in den normalgewichtigen Bereich zu kommen – und die körperliche Aktivität zu steigern. 10.000 Schritte pro Tag sind ein sehr guter Wert und lässt sich auch leicht mit dem Handy kontrollieren. Man kann also selbst viel dafür tun, das Diabetes-Risiko zu reduzieren oder die Werte zu stabilisieren.

Muss man also direkt 30 Kilo auf einen Schlag abnehmen?
Das ist natürlich illusorisch. Aber jedes Kilo weniger hilft, um den Stoffwechsel zu verbessern und die Insulin-Resistenz zu reduzieren. Denn dann kann der Körper Insulin besser an die Muskel-, Leber- und auch Fettzellen bringen und so den Zucker besser umsetzen.

Gibt es nur diese beiden Klassifikationen des Diabetes?
Nein. Es gibt noch den Typ-3-Diabetes, bei dem eine bestimmte Ursache die Erkrankung auslöst – beispielsweise eine Operation an der Bauchspeicheldrüse aufgrund eines Tumors oder fortwährende Entzündungen der Bauchspeicheldrüse, wodurch diese so stark geschädigt wird, dass sie kein Insulin mehr produzieren kann. Auch Medikamente, wie etwa Cortison, können die Erkrankung auslösen.

Die vierte Form ist der sogenannte „Schwangerschaftsdiabetes“ von Patientinnen, die während der Schwangerschaft erhöhte Blutzuckerwerte haben. In diesen Fällen ist die Einstellung des Blutzuckerwertes wichtig, um das Risiko nicht nur für die Mutter, sondern auch das ungeborene Kind zu minimieren. Nach der Schwangerschaft ist der Diabetes zwar in der Regel wieder weg. Doch haben diese Frauen ein erhöhtes Risiko, später einen Typ-2-Diabetes zu entwickeln. Sie sollten also regelmäßig KontroRalf Jung, Chefarzt der Abteilung Endokrinologie und Diabetologie am DGD Krankenhaus Sachsenhausen. Foto: DGD Krankenhaus Sachsenhausenlluntersuchungen vornehmen lassen.

Welche Auswirkungen hatte die Corona-Pandemie?

Zunächst einmal sind Patient*innen seltener in die Klinik oder in Praxen gekommen – weil sie Angst hatten, sich anzustecken. Das hat dazu geführt, dass die Patient*innen, als sie wiederkamen, viel schlimmere Verläufe der Krankheit hatten. Es gab wesentlich stärkere Blutzucker-Entgleisungen oder drastischere Fälle bei Folge-Erkrankungen wie dem diabetischen Fußsyndrom. Hinzu kommt, dass sich die Menschen weniger bewegt haben, ob im Homeoffice oder durch ein verändertes Freizeitverhalten, weil manche Sportarten nicht oder nur eingeschränkt möglich waren. In der Konsequenz haben die Menschen häufig zugenommen – und Übergewicht führt eben zur Insulin-Resistenz und im Verlauf auch zu Diabetes.

Was genau macht Diabetes so gefährlich?
Das sind die Folgekrankheiten: Der hohe Blutzucker schädigt Gefäße und Organe. So kann es in den Augen zu Netzhautveränderungen kommen, die Nieren können Schaden nehmen. Zudem werden auch die Arterien geschädigt, wodurch das Herzinfarktrisiko ebenso steigt, wie die Gefahr eines Schlaganfalls. Und auch Nervenschäden vor allem im Bereich der Füße sind stark verbreitet. Diese führen bis zur Gefühllosigkeit in den Füßen – mit der Folge, dass Verletzungen dort nicht mehr wahrgenommen werden. Es können sich starke Entzündungen bilden, an deren Ende sogar die Amputation stehen kann. In Deutschland werden jedes Jahr rund 70 000 Amputationen vorgenommen. Mehr als die Hälfte davon, also rund 40 000, entfallen auf den diabetischen Fuß. Kommen noch weitere Risikofaktoren, wie etwa Bluthochdruck oder erhöhte Cholesterinwerte, hinzu, steigt das Risiko für Folgeerkrankungen noch einmal enorm an.

Früherkennung ist also enorm wichtig. Wer sollte sich testen lassen?
Wer sich bei den Risikofaktoren wiedererkennt, weil er übergewichtig ist, sich zu wenig bewegt oder weiß, dass es in der Familie Diabetes-Fälle gibt, sollte einmal pro Jahr beim Hausarzt Blut abnehmen lassen, um den Blutzucker- und auch den Langzeitwert bestimmen zu lassen.

Welche Hoffnung können Sie an Diabetes erkrankten Menschen machen?
Wir haben in den vergangenen Jahren deutliche Fortschritte bei der Behandlung erzielt. Es gibt sehr gute, moderne Insuline zur Behandlung von Typ-1- und Typ-2-Diabetes. Außerdem gibt es neue Medikamente zur Behandlung von Typ-2-Diabetes, die sich nicht nur günstig auf den Blutzucker auswirken, sondern auch Niere und Herz besonders schützen.

Auch bei den Hilfsmitteln gibt es Fortschritte, sie werden immer „intelligenter“. Insulin-Pens zeigen an, wann man zuletzt wie viel gespritzt hat, was eine große Hilfe gerade für vergessliche Patient*innen ist. Insulin-Pumpen, die für Typ-1-Diabetiker kontinuierlich Insulin abgeben, werden mittlerweile mit kontinuierlichen Messsystemen gekoppelt: Diese messen den Gewebezucker und geben die Informationen an die Pumpe weiter. Mithilfe von künstlicher Intelligenz und Algorithmen kann die Pumpe entsprechend gesteuert werden. Das ist zwar noch keine künstliche Bauchspeicheldrüse, wie sie sich Patient*innen wünschen würden. Aber die Unterstützung kommt diesem Ideal schon recht nahe. Die Messsysteme kommen auch Menschen mit Typ-2-Diabetes, die Insulin spritzen, sehr zugute. Sie warnen die Patienten bei zu hohen oder niedrigen Blutzuckerwerten und bieten noch dazu eine Aufzeichnung der Werte an. So hilft die kontinuierliche Messung auch uns Ärzt*innen bei der Behandlung.

Wie können Sie Patient*innen im DGD Krankenhaus Sachsenhausen konkret helfen?
Wir haben ein umfassendes Konzept, bei dem viele Bereiche ineinandergreifen. Stationär gibt es zunächst die Akutstation, auf der wir starke Blutzucker-Entgleisungen ebenso behandeln, wie die Folgekrankheiten, allen voran das diabetische Fußsyndrom. Dann gibt es eine Station für strukturierte Diabetes-Therapie. Dort bieten wir für ambulant nicht adäquat eingestellte Patient*innen gezielte Kurse an, in denen wir sowohl Menschen mit Typ-1- als auch mit Typ-2-Diabetes einstellen und sie dann intensiv auf den häuslichen Alltag schulen, damit sie besser mit ihrer Erkrankung umgehen können.

Hinzu kommt eine ambulante Schwerpunkt-Praxis in unserem MVZ, wo die Patient*innen in der Regel jedes Vierteljahr kontrolliert werden. Dann wird geschaut, ob die Therapie gut läuft oder ob etwas verändert werden muss. Wir bieten hier auch ambulante Schulungskurse an. Außerdem ist an die Praxis eine diabetische Fuß-Ambulanz angeschlossen, die sich speziell den Patient*innen mit diesen schwerwiegenden Folgeproblemen des Diabetes widmet. Es ist ein komplexes Krankheitsbild, an dem eine Fachdisziplin alleine scheitern würde. Deswegen arbeiten wir hier im Team mit einer Wundexpertin, einer Diabetologin und einem orthopädischen Schuhmacher. Bei Bedarf kommen auch Orthopädietechniker zum Einsatz, die Orthesen herstellen können. Durch den Einsatz der unterschiedlichen Fachleute kann man eine optimale Versorgung dieser Risikopatient*innen gewährleisten.

Als Spezialität haben wir auch unseren Diabetesgarten: Dort zeigen wir, dass Schulmedizin und Naturheilkunde verbunden sind, dass viele Medikamente einen pflanzlichen Hintergrund haben – und auch, dass man durch gesunde Ernährung viel für sich und somit gegen den Diabetes tun kann. In der Klinik behandeln wir natürlich nicht mit Kräutern, wollen aber mit dem Diabetesgarten den ganzheitlichen Ansatz, den wir verfolgen, verdeutlichen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Jung.

 

Quelle: DGD-Stiftung Marburg/DGD Krankenhaus Sachsenhausen | Redaktion: Cornelia Meier

Foto: Eakrin/Adobe Stock
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