Folgen Sie uns
14. Juni 2023
Oliver Gahn-Schuster
Unguis incarnatus und Unguis in turriculo

Neue S1-Leitlinie für die Podologie

Ende des Jahres soll eine neue S1-Leitlinie für die Pathologien Unguis incarnatus und Unguis in turriculo veröffentlicht werden. Über die Zielsetzung der neuen Leitlinie und ihre Entstehung berichtet Podologe und sektoraler Heilpraktiker Oliver Gahn-Schuster. Er ist Teil der Expertengruppe, welche die Handlungsempfehlung aktuell erarbeitet.
Schmuckbild
Foto: MQ-Illustrations/Adobe Stock

Kennen wir nicht alle die Situation im Praxisalltag, wenn schon wieder ein Patient mit Unguis incarnatus auf dem Stuhl sitzt und erzählt, dass sein Arzt ihm Fußbäder mit Kernseife verordnet hat? Sind es nicht solche Momente, in denen wir uns fragen, warum solche obsoleten Behandlungsmethoden noch immer unter den Ärztinnen und Ärzten kursieren? Die Antwort ist meist simpel und hat in diesem Fall meist mit veralteten Leitlinien zu tun.

Was sind Leitlinien?

Leitlinien sind eine systematisch, wissenschaftlich entwickelte und praktische Orientierungs- und Entscheidungshilfe für Ärzt*innen, Pflegekräfte und andere Fachleute im Gesundheitswesen. Sie „fassen das aktuelle medizinische Wissen zusammen, wägen Nutzen und Schaden von Untersuchungen und Behandlungen ab und geben auf dieser Basis konkrete Empfehlungen zum Vorgehen“ (Stiftung Gesundheitswissen) und müssen regelmäßig aktualisiert werden.

Das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) teilt sie in vier Klassen oder Stufen ein. Dabei gilt: Je höher die Einstufung, desto sicherer die Aussagekraft.

  • S1: Handlungsempfehlungen von Expertengruppen
    Die Konsensfindung erfolgt hier in einem informellen Verfahren.
  • S2k: Konsensbasierte Leitlinien
    Sie werden von einem Gremium erarbeitet, das repräsentativ für das jeweilige Fachgebiet ist. Die erarbeiteten Empfehlungen basieren auf einer strukturierten Konsensfindung.
  • S2e: Evidenzbasierte Leitlinien
    Das Wissen wird systematisch gesammelt, es fehlt jedoch an einer strukturierten Konsensfindung.
  • S3: Evidenz- und konsensbasierte Leitlinien
    Diese Leitlinien haben die höchste Qualitätsstufe, denn das Wissen wird nach klaren Vorgaben gesammelt (systematische Literaturrecherche) und bewertet.

Anders als Richtlinien sind Leitlinien nicht verbindlich. Das heißt, die Anwendung einer Empfehlung ist immer unter Berücksichtigung der vorliegenden Gegebenheiten zu prüfen. Dazu gehören etwa mögliche Begleiterkrankungen des Patienten oder der Patientin, aber auch verfügbare Ressourcen. Sie gelten damit als „Orientierungshilfe im Sinne von ‚Handlungs- und Entscheidungsvorschlägen‘, von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann oder sogar muss“ (BÄK 1997). 

So entstehen Leitlinien

Das Online-Portal gesundheitsinformation.de beschreibt den Entstehungsprozess wie folgt: „Im Idealfall werden Leitlinien systematisch entwickelt, also nach einem bestimmten Verfahren: Zunächst wird eine Leitlinienkommission gebildet – mit Fachleuten aus allen für eine bestimmte Erkrankung wichtigen Berufsgruppen. Meist wird sie von einem Mitglied der medizinischen Fachgesellschaft geleitet, die sich mit dieser Erkrankung befasst.

Die Leitlinienkommission trägt das Wissen aus verschiedenen Quellen möglichst vollständig zusammen und bewertet es nach festgelegten Kriterien. Unterschiedliche Einschätzungen und Standpunkte der Kommissionsmitglieder werden diskutiert und beim Erstellen der Leitlinie möglichst angemessen berücksichtigt. Das nennt man auch ‚strukturierte Konsensfindung‘.

Nicht zuletzt müssen die Mitglieder der Kommission mögliche Interessenskonflikte offenlegen. Sie müssen zum Beispiel angeben, ob sie im Auftrag eines pharmazeutischen Unternehmens gearbeitet haben, das Medikamente gegen die Krankheit herstellt, die die Leitlinie behandelt.“

Porträtfoto
Foto: privat
Autor Oliver Gahn-Schuster (52), Podologe und sektoraler Heilpraktiker, ist Inhaber und Leiter des Podologikum am Bertholdplatz in Baden-Baden sowie Vorsitzender des Arbeitskreises „Fußgesundheit Baden-Baden“.

S1-Leitlinie zur Pathologie des Unguis incarnatus und des Unguis in turriculo

Es existieren aktuell mehr als 760 Leitlinien zu verschiedenen Pathologien. Sie alle sind bei der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) abrufbar.

Hierunter sind viele Leitlinien, die das Fachgebiet der Podologie kreuzen beziehungsweise betreffen. Ein Beispiel ist die Leitlinie zu den Pathologien Unguis incarnatus und Unguis in turriculo, die aktuell neu erarbeitet wird und sich an Dermatolog*innen, Chirurg*innen, Allgemeinmediziner*innen, Podolog*innen, Pädiater*innen, Orthopäd*innen und Unfallchirurg*innen richtet.

IM GESPRÄCH: „EINE CHANCE FÜR DIE PODOLOGIE“

Die Ausarbeitung der S1-Leitlinie „Management des eingewachsenen Nagels (Unguis incarnatus, Onychogrypose) und des Zangennagels (Unguis in turriculo, Pincer-nail)“ ist von der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft (DDG) initiiert worden und wird durch die wissenschaftliche Abteilung der Charité Berlin koordiniert.

Ziel der neuen Leitlinie ist es laut AWMF Leitlinien-Register, Empfehlungen auszusprechen „zur stadienabhängigen konservativen und operativen Therapie sowie zur Vorbeugung und Rezidivprophylaxe“. Zwar gäbe es „eine Vielzahl von operativen Verfahren […], die angesichts schonenderer Verfahren heute als obsolet eingestuft werden sollten“, jedoch keinen fachübergreifenden Konsens.

In der Expertengruppe zur Erarbeitung der Leitlinie sind unter anderem ärztliche Vertreterinnen und Vertreter wie niedergelassene Ärzte, Doktoren, Professoren und ärztliche Direktoren der dermatologischen Bereiche und Kliniken sowie aus dem Bereich der Kinder- und Jugendchirurgie vertreten. Involviert ist überdies der Verband Deutscher Podologen (VDP). Zu Beginn war zudem noch ein Fachbuchautor aus dem Bereich Podologie vertreten.

Veraltete Ansichten revidieren

In der anfänglich stattfindenden Sondierung der Themen wurde schnell klar, auf welche Bereiche man sich aus podologischer Sicht konzentrieren sollte – obsolete Behandlungsmethoden und Ansichten in den folgenden Bereichen:

  • exakte Klassifikation, Definition und Nomenklatur eines Unguis incarnatus und eines Unguis in turriculo – bis heute gibt leider keine einheitliche, interdisziplinäre Klassifikation und es kommt (zu oft) zur Verwechslung in der Definition der beiden Pathologien.
  • spezielle podologische Maßnahmen (u. a. Orthonyxietherapie) wie Akutversorgung (z. B. Entlastungsschnitt, Tamponaden etc.), Begleitmaßnahmen (z. B. Prävention/Beratung bei der Schuhversorgung, Fußklima und dem Einsatz von Hilfsmitteln)
  • Anmerkungen, Darlegungen und Erläuterungen der aus podologischer Sicht veralteten Behandlungsmethoden (z. B. Fußbäder, Emmert-Plastik, systemische und lokale Antibiosen) und der mit ihnen verbundenen Risiken

Stand der Dinge

Aktuell befindet sich die S1-Leitlinie in der zweiten Phase, in der unter anderem die erarbeiteten Kapitel zusammengeführt werden. Dazu werden die Charité Berlin und die Verantwortlichen der DDG alle Entwürfe sichten und auswerten. Danach folgt die „Konsensfindung“– eine spannende Zeit des Diskurses und Dialogs. Mit der finalen Version wird zum Jahresende gerechnet.

Fazit

Für mich als Podologen stehen bei der Ausarbeitung der Leitlinie folgende Aspekte im Vordergrund:

  • ein interdisziplinärer Austausch und eine Anerkennung des Fachgebiets der Podologie in solchen Gremien – Kommunikation auf Augenhöhe
  • die Patientinnen und Patienten als Mittelpunkt der fachübergreifenden Behandlung – so sollen überholte Methoden vermieden oder überarbeitet werden, die uns in der täglichen Arbeit in der podologischen Praxis begegnen und die wir als kontraindiziert einstufen müssen
  • eine allgemeine bundesweite und fachübergreifende, festgeschriebene Definition und Klassifikation der beiden Pathologien
  • Erörterung und damit das „Sichtbarmachen“ des Umfangs an podologischen Maßnahmen für Ärzteschaft – Beteiligung an Symposien mit Vorträgen in den jeweiligen medizinischen Fachgebieten im Rahmen der Vorstellung der S1-Leitlinie
Quellen
Quellen
Öffnen Schließen
Foto: Eakrin/Adobe Stock
Draufsicht
Zurück
Speichern
Nach oben