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14. Oktober 2016
Redaktion

Vorfußentlastungsschuh bei Diabetischem Fußsyndrom

Bei einem Patienten mit einem Diabetischen Fußsyndrom ist ein Vorfußentlastungsschuh aber häufig nicht in der Lage, eine Entlastung sicher zu stellen. Die Initiative Chronische Wunden e. V. hat in einer Stellungnahme über diese Problematik informiert und erklärt auch, wann die Verordnung eines Vorfußentlastungsschuhs nicht sinnvoll ist.

Das Gehen zählt wie das Stehen zu den Au­tomatismen und ist eine Verhaltensweise, die, nachdem wir sie als Kind einmal ge­lernt haben, selbsttätig vom Zentralnervensystem gesteuert wird. Der Mensch ist ein Zehenballengänger  und rollt über den Vorfuß und die Zehen ab. Im Idealfall führen wir beim Gehen den angehobenen Fuß nach vorne, setzen ihn mit der Ferse auf und rollen über die laterale Fußseite ab. Sobald die Körpermitte über den aufgesetzten Fuß nach vorne verlagert wird, berührt nur noch der Fußballen den Boden und trägt unser ganzes Körpergewicht, da in diesem Moment der gegensei­tige Fuß bereits angehoben ist. Der Fußbal­len wird beim Ab­rollen entsprechend der Länge der Metatarsalknochen von lateral nach medial belastet, so dass zuletzt nur noch der erste Zeh den Boden berührt, bevor der Fuß erneut angehoben wird. Je schneller wir gehen, desto kürzer sind die Belastungszeiten. Je langsamer wir gehen, desto länger sind sie. Je größer die Auflagefläche ist, desto geringer sind die lokalen Druckspitzen.

Diabetisches Fußsyndrom

Das diabetische Fußsyndrom ist in seiner Gesamtheit bis heute nicht eindeutig verstanden. Sicher ist, dass es über die verschiedenen Formen der diabetischen Polyneuropathie zu einer komplexen Änderung der Biomechanik des Fußes kommt, welches den Bewegungsablauf verändert und die lokalen Druck­belastungen erhöht. Die sensorische Polyneuropathie führt nicht nur dazu, dass der Betroffene eine gestörte sensible Reizwahrnehmung für Schmerz, Druck und Temperatur hat. Zusammen mit der Störung der tiefen Sensorik führt dies auch dazu, dass der Fuß als Körperteil im Gehirn nicht abgebildet wird. Alexander Risse beschreibt dies als „Leibesinselschwund“ [1]. Er versteht darunter eine Diskrepanz zwischen den erspürbaren und ertastbaren Körperteilen. Der Patient mit der diabetischen Polyneuropathie kann mit geschlossenen Augen seine Füße mit seinen Händen ertasten, aber er kann sie nicht als Teil seines Körpers spüren. Die Füße werden gesehen, aber als zum Körper gehörende Leibesinsel sind sie verschwunden. Die motorische Neuropathie beeinflusst den Tonus der Fußmuskulatur und führt zur Atrophie der kleinen Fußmuskeln. Ihre meist einfach sichtbare Folge ist die Ausbildung von Krallenzehen. Dies ist aber nur ein Zeichen für eine insgesamt gestörte Fußmuskulatur mit verändertem Zusammenspiel wäh­rend des Bewegungsablaufs und einer ­reduzierten Stabilität. In der Fol­ge kommt es zu veränderten Druckbelastungen beim Gehen und Stehen.

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Vorfußentlastungsschuh

Der Vorfußentlastungsschuh wird in verschiedenen Ausführungen seit den achtzi­ger Jahren des letzten Jahrhunderts eingesetzt. Er wurde primär entwickelt, um im traumatologischen und postoperativen Einsatz eine Entlastung des ­Vorfußes zu er­möglichen, die für eine knöcherne Konsolidierung ausreicht. Für diese Einsatzbereiche ist er indiziert und effektiv (Abb. 1). Zwei Aspekte sind bei der Anwendung  eines Vorfußentlastungsschuhs zu beachten. Der Vorfußentlastungsschuh führt  nicht zu einer vollständigen Entlastung des Vorfußes, sondern setzt eine Teilbelast­barkeit voraus, und der Vor­fußentlastungsschuh bedarf einer besonderen Gehweise, um die Entlastung des Vorfußes zu erreichen. Beim Gehen mit einem Vorfußentlastungsschuh muss der betrof­fene Fuß immer vor dem Körperschwer­punkt bleiben. Gerät der betroffene Fuß hinter den Körperschwerpunkt, wird automatisch der Vorfuß belas­tet. Bei Patienten ohne Polyneuropathie führt allein schon die Schmerzwahrneh­mung, die von einer vorzeitigen und nicht heilungsgerechten Vorfußbelas­tung ausgeht, automatisch zur richtigen Anwen­dung. Patienten mit einer Zehenfraktur oder Vorfußverletzung sorgen dafür, dass der betroffene Fuß beim Gehen vor dem Körperschwerpunkt bleibt, da jede Verlagerung des Körperschwerpunktes vor den Fuß über eine Vorfußbelastung Schmerzen verursacht. Sie bleiben auf der Ferse stehen, während sie das andere Bein ent­lasten und bis auf Höhe des betroffenen Beins heranholen. Dann setzen sie den zu entlastenden Fuß wieder vor. Um dieses Gangbild zu erlernen, bedarf es einer guten Koordination und schnelles Gehen ist so nicht möglich. Die Verordnung von Geh­hilfen ist häufig sinnvoll und koordinative Bewegungsstörungen werden als Kontra­indikation für einen Vorfußentlastungsschuh angesehen.

Vorfußentlastungsschuh und Diabetisches Fußsyndrom

Bei einem Patienten mit einem diabetischen Fußsyndrom und einer Wunde stellt erstens die nicht vollständige Druckent­lastung und zweitens die falsche Anwen­dung ein Problem dar, welches die Wundheilung behindert.
1. Aufgrund der nicht vollständigen Druckentlastung ist ein Vorfußentlas­tungsschuh allein bei allen plantaren Wunden nicht ausreichend. In diesen Fällen sind zusätzlich lokale druckent­lastende Maßnahmen zwingend notwendig. Dazu gehören lokale Maßnahmen mit zurechtgeschnittener druckstabiler Watte oder eine dia­be­tes­adaptierte Fuß­bettung.
2. Würde der Vorfußentlastungsschuh von einem Patienten mit einem diabetischen Fußsyndrom und einer Wunde im Be­reich des Vorfußes genauso angewendet wie zuvor beschrieben, gäbe es bei adäquater und ausreichender plantarer Druckentlas­tung, aber auch bei Wunden im interdigitalen, akralen und lateralen Bereich des Vorfußes, keine Einwände gegen die Verordnung und Anwendung eines Vorfußentlastungsschuhs. Die diabetische Polyneuropathie verhindert aber jede Rückkopplung zwischen dem Vorfußentlastungsschuh und dem Patienten. Aufgrund des Leibes­inselschwundes mit fehlendem Bewusst­sein für den Fuß überläuft der Patient mit diabetischer Polyneuropathie den Vorfußentlastungsschuh einfach, ohne es zu bemerken. Er hat noch nicht einmal die Chance, es zu bemerken. Es fehlt die Rückmeldung, dass, sobald der Fuß hinter den Körperschwerpunkt gerät, eine Vorfußbelastung eintritt und damit eine notwendige Entlastung gar nicht vorliegt und die Wundheilung erschwert bis unmöglich wird. Aufgrund der Polyneuropathie bemerkt der Patient nicht einmal die Stufe in der Fußsohle, sondern läuft mit dem Vorfußentlastungsschuh wie mit jedem anderen Schuh in normaler Schrittlänge und rollt dabei über den Vorfuß ab (Abb. 2). Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass nach ausreichender Aufklärung und Schulung des Patienten diese falsche Handhabung zu beseitigen wäre. Doch da kommt die große Tragweite des Leibesinselschwundes zum Tragen. Da der Fuß eines Patienten mit diabetischer Polyneuropathie für den Betroffenen nicht fühlbar und damit nicht existent ist, ist eine Schulung über das sachgerechte Gehen nicht möglich. Auch wenn der Patient kognitiv den notwen­digen Ablauf des Gehens mit einem Vorfußentlastungsschuh verstanden hat, ­verfällt er immer wieder in den Automatismus des erlernten Gehens.

Praktische Umsetzung

Auch wenn wir als Initiative Chronische Wunden e.V. die Verordnung eines Vorfußentlastungsschuhs bei einem Pa­tien­ten mit diabetischer Polyneuropathie mit einer Wunde im Bereich des Vorfußes als falsch ansehen, kommt sie im Alltag immer wieder vor. In diesen Fällen ist neben der Wundheilung auf einen unsachgemäßen Bewegungsablauf zu achten. Eine verzögerte Wundheilung kann Folge der unzureichenden Entlas­tung sein. Abnutzungserscheinungen in dem Bereich der Schuhsohle des Vorfußentlastungsschuhs, die nicht den Boden berühren sollte, und nicht erklärbare äußere plantare Verschmutzungen des Verbandes im Bereich des Vorfußes sind sichere Beweise für eine falsche Anwendung des Vorfußentlas­tungsschuhs (Abb. 3 a, b). Dies sollte sowohl vom verordnenden Arzt als auch von Wundexperten regelmäßig kontrolliert werden und sollte zu einer Änderung der Schuhversorgung Anlass geben.
Nach den Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft Diabetischer Fuß der Deutschen Diabetes Gesellschaft fällt ein Pa­tient mit Diabetes mellitus und einer Wunde am Fuß in die Risikogruppe VII und bedarf einer temporären Versorgung mit einem Entlastungsschuh, Verbandschuh, Interimschuh, Orthese oder Total Contact Cast (TCC). Reicht der Vorfußentlastungsschuh also nicht aus, weil er aufgrund der Polyneuropathie unsachgemäß angewandt wird, ist die Verordnung eines Interimschuhs, einer Orthese oder eines TCCs indiziert, auch wenn diese Versorgungen deutlich teurer sind.

Zusammenfassung

Ein Vorfußentlastungsschuh ist ein preisgünstiges und effektives Mittel zur Ent­lastung des Vorfußes. Bei einem Patienten mit einem diabetischen Fußsyndrom ist der Vorfußentlastungsschuh aber häufig nicht in der Lage, genau diese Entlas­tung sicher zu stellen. Dies liegt nicht am Vorfußentlastungsschuh, sondern am komplexen Zusammenspiel von diabetischer Polyneuropathie, Bewegungsablauf und Schuh. Die Verordnung und Anwendung eines Vor­fußentlas­tungs­schuhs bei einem Patienten mit ­diabetischem Fußsyndrom und einer schlecht heilenden Wunde am Vorfuß ist in den meisten Fällen nicht sachgerecht und damit falsch.

Literatur
  • Risse, Alexander: Leibesinselschwund. Ein Phänomen des Diabetischen Fußsyndroms. Rechts­depesche 2014; 11 Suppl. 2: 10 –14.
  • Wiederabdruck aus: Wund Management 2015; 9 (2): 60 – 62. Mit freundlicher ­Genehmigung des mhp Verlags.
Literatur
  • Risse, Alexander: Leibesinselschwund. Ein Phänomen des Diabetischen Fußsyndroms. Rechts­depesche 2014; 11 Suppl. 2: 10 –14.
  • Wiederabdruck aus: Wund Management 2015; 9 (2): 60 – 62. Mit freundlicher ­Genehmigung des mhp Verlags.
Foto: Eakrin/Adobe Stock
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