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13. Oktober 2016
Redaktion
Wachgeküsst

Faszien – zwischen Wissenschaft und Praxis

Man sagt Faszien nach, lange im Dornröschenschlaf gelegen zu haben, doch es sind wohl eher die Wissenschaft und die öffentliche Wahrnehmung, die inzwischen von den Faszien wachgeküsst wurden. Nun widmen nicht nur Physiotherapeuten und Forscher aus den unterschiedlichsten Fachgebieten dem Bindegewebe ihr größtes Interesse, auch Medien, Fitnesstrainer und Ernährungsberater arbeiten kräftig daran mit, dass Faszien in aller Munde sind.

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Foto: ExQuisine/Fotolia.com

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Faszien faszinieren mich“, so hört man immer wieder Forscher sagen mit echter Begeisterung, die sich in den letzten Jahren dem Bindegewebe verschrieben haben. Sie seien ein „Wunderwerk“, das eine noch unabschätzbare Vielfalt an Funktionen im Körper übernimmt und an einer Vielzahl an Prozessen mitwirkt. Von einer „Aufbruchstimmung“ unter Fas­zien­forschern ist die Rede, manche sprechen gar von einem Paradigmenwechsel. Die „Faszination“ ist umso größer, als man das Bindegewebe so lange unterschätzt hat: Inzwischen amüsiert man sich darüber, dass es in der Anatomie früher einfach entfernt wurde und dann unbeachtet im Abfall landete. Oder empfindet einen leisen Schauer angesichts dessen, dass es in Operationen gerne großzügig durchschnitten wurde und teilweise noch wird, um an die dahinterliegenden Organe zu kommen – ohne zu beachten, was man hier verletzte und zerstörte. Gemessen an dem, was man heute über Fas­zien weiß und an ­immer neuen Erkenntnissen erwartet, scheint es in der Vergangenheit geradezu ein blinder Fleck der Wissenschaft gewesen zu sein, dass die Aufmerksamkeit in erster Linie Muskeln, Knochen und dem Herz-Kreislauf-System galt – und dass diese drei Bereiche auch für therapeutische und medizinische Behandlungen viel relevanter schienen als das Bindegewebe. Die derzeitige Entwicklung hat auch die Anatomie erreicht: Während dem Bindegewebe in früheren Publikationen meist nur kleine Kapitel galten und sich der Großteil der Illustrationen Knochen, Muskeln und allenfalls noch Sehnen und Bändern widmete, veröffentlichte Dr. Carla Stecco aus Padua jüngst eine umfangreiche Anatomie der Faszien. Mit ihrer Forschungsgruppe ist sie derzeit eine der renommiertesten und aktivsten Faszienexpertinnen und hat ihren Atlas in der Tat mit faszinierenden Detailfotos unterschiedlichs­ter Bindegewebsstrukturen des Körpers bebildert.

Die Faszienanatomie von Carla Stecco ist zugleich ein Plädoyer dafür, genauer einzugrenzen, mit welchen Faszien man sich jeweils beschäftigt. Sie fordert dazu auf, die betreffende Körperstelle genau zu benennen und auch die unterschiedlichen Funktionen, die die jeweiligen Faszienstrukturen erfüllen, genau zu differenzieren. Tatsächlich wird der Begriff „Faszie“ derzeit häufig recht unspezifisch verwendet, auch in der Wissenschaft ist unterschiedlich weit gefasst, was alles unter „Faszien“ zu subsumieren ist. Seit dem First International Fascia Research Congress an der Harvard Medical School in Boston 2007 setzt sich ein weit gefass­tes Verständnis durch, dass Faszien mit Bindegewebe im funktionalen Sinne gleichsetzt. Es begreift Faszien als körperumspannendes und den gesamten Körper durchziehendes Netzwerk. Als solches bildet es feste Hüllen um Organe, umhüllt und durchzieht Muskeln, bildet Gelenkkapseln und ist in Form von Sehnen und Bändern direkt mit dem Knochen beziehungsweise der Knochenhaut und Muskeln verbunden. Faszien in diesem Sinne sind alle fa­serigen kollagenhaltigen Bindegewebsstrukturen, deren Struktur und Beschaffenheit durch Spannungsbelas­tungen bestimmt sind. Dies sei der „moderne Fas­zienbegriff“, schreibt Robert Schleip von der Ulmer Fascia Research Group in seinem neuen Buch „Faszien Fitness“. Was im Alltagsgebrauch unter Bindegewebe verstanden werde, komme diesem modernen Faszienbegriff recht nah. Viele Mediziner und Anatomen haben jedoch einen engeren Faszienbegriff, was es zu berücksichtigen gilt, wenn die unterschiedlichen Fachdisziplinen miteinander kommunizieren: Sie haben einen weit gefassten Bindegewebsbegriff, der auch Blut und Knochen umfasst – und einen engeren Faszienbegriff, der nur eine bestimmte Art von Bindegewebsblättern als Faszie bezeichnet: im Wesentlichen bestimmte Teile des musku­lären Bindegewebes. Sie würden das, was die neuere Faszienforschung als Faszien beschreibt, „Binde- und Stützgewebe“ nennen (ein solches anatomisches Verständnis von Faszien und Bindegewebe des Fußes stellt Prof. Axel Brehmer ab S. 16 vor).

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Körperumspannendes Netzwerk

Folgen wir hier dem weiter gefassten Faszienbegriff, so handelt es sich um kollagenes Bindegewebe, das sich aus dem Mesenchym, der Urform des Bindegewebes, entwickelt hat und sich unter dem Einfluss von Zug und Spannung in einer jeweils spezifischen Struktur im Körper formiert. Die oberflächliche Körperfaszie (Fascia corporis superficialis) umhüllt als lockeres kollagenes Bindegewebe fast den gesamten Körper und hält ihn in Form. Anhand von Mumien lässt sich feststellen, dass Faszien die Form des Körpers zu erhalten imstande sind, auch wenn die Muskelfasern weitgehend geschrumpft sind. Muskeln werden von Faszien umhüllt und durchzogen: Nicht nur der Muskel als Ganzes wird von Bindegewebe umhüllt, sondern auch die Faserbündel sowie die einzelnen Muskelfasern. Faszien im weiteren Sinne umhüllen und schützen auch Organe und bilden insgesamt einen „Verschieberaum“, der die Flexibilität der Strukturen untereinander gewährleistet.

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Woraus bestehen Faszien?

Faszien bestehen im Wesentlichen aus  Kollagen- und Elastinfasern sowie einem großen Anteil einer wässerigen Grundsubstanz. Formgebend und für die mecha­nischen Eigenschaften der Faszien verantwortlich sind vor allem die Kollagene – feste Fasern, die begrenzt dehnbar sein können und eine hohe Zugfestigkeit aufweisen. Weitaus dehnbarer ist das zweite Strukturprotein Elastin, dass wie ein Gummiband weit gedehnt werden kann und danach wieder in seine ursprüngliche Form zurückkehren kann. Produziert werden Kollagen und Elas­tin von Fibroblasten, die im Faszien­gewebe lokalisiert sind. Je nach Anforderung und Lokalisation des Fasziengewe­bes produzieren diese Zellen unterschiedlich viel Kollagen, dabei spielen mechanische und biochemische Einflüsse eine Rolle, die derzeit genauer erforscht werden. Die Fibroblasten spielen eine wichtige Rolle bei der Synthese der Interzellularsubstanz, der so genannten extrazellu­lären Matrix – die sich aus einer flüssigen Grundsubstanz und den Elas­tin- und Kollagenfasern zusammensetzt. In der wässrigen Grundsubstanz sind Zuckermoleküle, die Wasser binden können, und weitere Zellen enthalten, die für den Metabolismus des Gewebes zuständig sind. Die Grundsubstanz enthält auch Abwehrzellen, Lymphzellen und Fettzellen in unterschiedlich großen Mengen. Für gesunde, gleitfähige Faszien spielt der Wassergehalt eine entscheidende Rolle – und zwar der Gehalt an gebundenem Wasser. Die Wasserbindung wird durch verschiedene Glykosaminoglykane und Glykoproteine gewährleis­tet – insbesondere durch Hyaloronsäure, die eine besonders hohe Wasserbindungsfähigkeit besitzt und daher gern in kosmetischen Produkten verwendet wird.

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Bahnbrechende Erkenntnisse

Dass das weißliche Bindegewebe überall im Körper zu finden ist, ist bekannt, seit die Wissenschaft in das Innere des Körpers blickt. Warum rückt es erst in den letzten Jahren derart in den Fokus? Insbesondere Pioniere in der Physiotherapie erkannten schon sehr viel früher als die Wissenschaft und Schulmedizin, dass durch die Behandlung des Bindegewebes Erstaunliches in der Therapie von Schmerzen, Verspannungen, Bewegungs- und Haltungseinschränkungen erreicht werden kann. Ein bekanntes Beispiel ist Ida Rolf, nach der die später so erfolgreiche manuelle Therapieform Rolfing benannt wurde. Oder der Begründer der Osteopathie, Andrew Taylor Still, der als einer der ers­ten herausstellte, dass Fas­zien mit Nerven versorgt und als Sinnesorgan zu betrachten sind. Bekannt ist auch Thomas Myers, der – aus der Praxis seiner physiotherapeutischen Arbeit – in seinem Buch „Anatomy Trains“ verschiedene lange Ketten aus Muskeln und Faszien (myofasziale Ketten) beschrieb, die den Körper durchziehen und ihn geradezu zu einem Spannungsnetzwerk machen. In den Fokus der Wissenschaft rückten Faszien jedoch vermutlich durch die neueren technischen Entwicklungen in den bildgebenden Verfahren. So ermöglichte es erst der hochauflösende Ultraschall, Faszienstrukturen genauer zu erfassen und ihre Beschaffenheit objektiv messbar zu machen. Seitdem wurde so manche Erkenntnis gewonnen, die das bestehende Verständnis des Halte- und Bewegungsapparats, aber auch verschiedenster Zusammenhänge im Körper, revo­lutionierte.

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Faszien als Sinnesorgan

Früher hielt man das Bindegewebe eher für lebloses Füllmaterial, doch heute geht man davon aus, dass Faszien gleichsam ein lebendiges Sinnesorgan sind, das empfinden kann. So stellte man fest, dass beispielsweise Muskelfaszien von Blutgefäßen und Nerven durchzogen sind, die den Muskel versorgen. Vor allem aber sind sie mit einer Vielzahl von Rezeptoren ausgestattet. So fand man vier Typen von Mechanorezeptoren:

  • Pacini-Körperchen, die auf schnelle Druckwechsel, Vibrationen und ruck­artige Reize reagieren.
  • Ruffini-Körperchen, die lang anhaltenden und wechselnden Druck wahrnehmen.
  • Golgi-Apparate, die auf Aktionen des Muskels reagieren und bei größeren Zugbelas­tungen der Sehne die Muskelspannung reduzieren.
  • Interstitielle Rezeptoren, die Druck, Schmerz und Temperatur wahrnehmen und mit dem vegetativen Nervensys­tem verbunden sind.

Mit ihren zahlreichen Rezeptoren und freien Nervenendigungen können Fas­zien gleichsam als Sinnesorgan betrachtet werden, das ganz entscheidend zur Propriozeption – der Eigenwahrnehmung der Lage und Bewegungen des Körpers im Raum – beiträgt. Auch in Bezug auf die Wirkung sensomotorisch wirkender Hilfs­mittel lohnt es sich also, die Faszien näher in den Blick zu nehmen. Noch größer als die Anzahl der ­Mechano- und Propriorezeptoren ist die Anzahl der Interorezeptoren in den Faszien. Sie übermitteln über das periphere Nervensystem Sinnesinformationen über den Status des internen Körpermilieus, zum Beispiel der Organe, an das Gehirn.

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Faszien und Schmerz

Einen Meilenstein in der Faszienforschung, setzte Prof. Siegfried Mense mit dem Nachweis, dass Faszien in der Lage sind, Schmerz wahrzunehmen. Er fand in der Thoracolumbalfaszie von Ratten freie sensorische Nervenendigungen zur Schmerz­wahrnehmung (Nozizeptoren), sowie viele Fasern, die zum sympathischen Nervensystem zählen. In einem Experiment löste Prof. Mense an der Thoracolumbalfaszie von Ratten gezielt Entzündungen aus. Er beobachtete, dass dies die Anzahl der Nozizeptoren in den betreffenden Fas­zienbereichen ansteigen ließ. Mense schloss daraus, dass Entzündungen die Bildung von Nervenwachstumsstoffen beschleunigen, so dass dann ein Reiz mehr Schmerz als vorher auslösen kann. Möglicherweise, so Mense, könnten ­dadurch Fasziitis-Schmerzen erklärt werden. Mense konnte anhand von Versuchen an Ratten auch das Phänomen erklären, weshalb Schmerz häufig an anderen Stellen im Körper auftritt als an der schmerzverursachenden Stelle. So zeigte er, dass die entsprechenden Nozizeptoren ihre Nervenendigungen in benachbarte Körperregionen „schicken“, wo der Schmerz dann spürbar wird. Hiermit konnte wissenschaftlich untermauert werden, was die Physiotherapie schon länger weiß: Dass Muskel- und Faszienschmerzen nicht immer da behandelt werden sollten, wo es weh tut – und dass die eigentliche Ursache der Beschwerden woanders als an der schmerzenden Stelle liegen kann.  Heute gehen Faszienforscher davon aus, dass viele Schmerzen, die man vorher der Muskulatur zugeordnet hat, eher von den Faszien ausgehen – insbeson­dere für den weit verbreiteten unspezifischen Rückenschmerz hofft man, mit den fortschreitenden Erkenntnissen der Faszienforschung endlich Ursachen und passende Therapieansätze zu finden. Vieles deutet auf die Beteiligung der Faszien hin: Die Forscherin Helene Langevin fand beispielsweise bei Rückenschmerzpatienten eine verstärkte Dicke und verminderte Scherbeweglichkeit der Lumbalfaszie. Dr. Carla Stecco konnte bei Nackenschmerzpatienten ­eine deutliche Verdickung der tiefen Faszie messen.

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Faszien verändern sich

Dass insbesondere die tiefe Faszie eine Schmerzquelle sein kann, untersuchte Dr. Carla Stecco näher. Von den verschiedenen schmerzhaften Veränderungen der tiefen Faszie nahm sie zwei genauer in den Blick und bezeichnete sie als „Fibrotisierung“ sowie „Densifika­tion“ des Fasziengewebes. Bei der Fibrotisierung, so Stecco, kommt es, ähnlich der Narbenbildung, zu einer vermehrten Kollagenproduk­tion der Fibroblasten, wobei die Struktur des Fasergewebes verändert oder ­zerstört wird. Bei der Densifikation hingegen führe eine Veränderung der flüssigen Grundsubstanz zu einer Verdichtung des Fasziengewebes. Sie wird dadurch hervorgerufen, dass das lockere Bindegewebe zwischen den Kollagenschichten zähflüssiger (visköser) wird. Dadurch wird das Aneinander-entlang-Gleiten der Kollagenschichten in den Faszien einschränkt. Diese eingeschränkte Gleit­fähigkeit werde von Patienten oft als erhöhte Steifigkeit des Fasziengewebes wahrgenommen. Zu­dem könne sie zur Folge haben, dass die Kraftübertragung in den Faszien gestört wird und die verschiedenen Kollagenschichten die Kräfte nicht mehr unabhängig voneinander und in verschiedene Richtungen übertragen können, vermutete Stecco. Neben mangelnder Bewegung und mechanischen Beanspruchungen hält Dr. Carla Stecco verschiedene andere Gründe für solche Veränderungen an den Faszien für wahrscheinlich. So etwa Überlas­tungen und eine schlechte ­Er­nährung, Traumata und Operationen, hormonelle Einflüsse und Alterungsprozesse. Diabetes könnte ebenfalls eine Ursache sein, vermutet sie, da die Ab­lagerungen, die durch erhöhten Blutzucker entstehen, auch zu Verdickungen und Fibrotisierungen der Kollagen­fasern in der tiefen Faszie führen könnten.

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Muskelähnliche Eigenschaften von Faszien

Dass sich Muskeln kontrahieren können, ist allseits bekannt, doch dass auch das Fasziengewebe dazu in der Lage ist, ist eine vergleichsweise junge Erkenntnis. Vermutet hat bereits Jochen Staubesand in den neunziger Jahren, dass sich Zellen in den Faszien zusammenziehen und über längere Zeit angespannt bleiben können. Den wissenschaftlichen Nachweis solcher muskelähnlicher Zellen erbrachten Dr. Robert Schleip und Dr. Werner Klingler, die heute in der ­Fascia Research Group Ulm tätig sind. Schleip und Klingler suchten zunächst nach glatten Muskelzellen in den Faszien, die sie dort jedoch nicht fanden. Stattdessen identi­fizierten sie so genannte Myofibroblas­ten – eine spezielle Art der kollagen­produzierenden Fibro­blas­ten – die ganz ähnliche Eigenschaften wie glatte Muskelzellen haben: Sie können sich und das umliegende Gewebe aktiv und auch unabhängig vom Muskel zusammenziehen. Die Ulmer Forscher wiesen in in-vitro-Versuchen nach, dass diese Kontraktionen von biochemischen Botenstoffen ausgelöst werden können, unter anderem auch von Botenstoffen, die bei Stress ausgeschüttet werden. Hier könnte der häufig beobachtete Zusammenhang zwischen Stress und Rückenschmerzen möglicherweise einmal seine wissenschaftliche Erklärung finden. Die Kontraktionen, so stellten die Ulmer Forscher fest, können über Minuten bis Stunden anhalten und so stark sein, dass sie eine Veränderung des normalen muskuloskelettalen Verhaltens auslösen könnten.

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Das Zusammenspiel von Muskeln und Faszien

Das Zusammenspiel von Muskeln und Faszien untersuchte unter anderem Dr. Carla Stecco genauer. Sie zeigte, dass die Faszien Muskelkontraktionen wahrnehmen und sich daran anpassen und dass Muskeln über Sehnen nicht nur mit den Knochen verbunden sind, sondern auch direkte Verbindungen in das tiefe Fas­ziengewebe aufweisen. Wenn der Muskel kontrahiert, so Stecco, werden auch ­damit verbundene Faszienbereiche gedehnt. Peter Huijing erkannte bereits 1999, dass nur etwa 70 Prozent der Muskelkraft über die Sehnen an die Knochen und in Bewegung übertragen werden, rund 30 Prozent dagegen zunächst an die Faszien. Bahnbrechend war seine Erkenntnis, dass diese Kräfte über die Faszien auch an benachbarte Muskelgruppen übertragen werden, selbst wenn es sich um funktionelle Antago­nis­en handelt. Nach Huijing ist diese myofasziale Kraftübertragung individuell unterschiedlich. Er stellte fest, dass bei Kindern mit spastischen Kontrakturen die Kraft­übertragung zwischen benachbarten Mus­keln doppelt so stark ist wie bei gesunden Kindern. Wie Dr. Robert Schleip in einem Vortrag bei der Jahrestagung der MBO 2014 feststellte, habe diese ­Erkenntnis die Therapie spas­tischer Er­kran­kun­gen entscheidend ­verändert: Die Physiotherapie arbeite ­seitdem in der bindegewebigen Faser­schicht, statt an den harten Muskel­bäuchen, und versuche, die Verbackenheit der Faszien aufzulockern. Auch chirurgisch werde ­teilweise versucht, die laterale Querverbackenheit der Kollagen­fasern aufzulockern. In mechanischen Tests an Faszien von Kadavern beobachtete Dr. Carla Stecco, dass Faszien weniger dehnbar sind als Muskeln. Dies führte sie zu der Schlussfolgerung, dass die Steifigkeit der Faszien die Flexibilität eines Segments begrenzt. Kommt es zu einer Verfilzung, Versteifung oder Verbackenheit des ­Fasziengewebes, so könne sich im ­Extremfall ein Kompartment-Syndrom entwickeln, bei dem ein erhöhter Gewebedruck die neuromuskulären Funktionen erheblich einschränkt. Das Zusammenspiel von Muskeln und Faszien hält Stecco für wesentlich für die Propriozeption. Sie geht davon aus, dass verschiedene Bewegungen die in den Faszien vorhandenen Pacini-, Ruffini-Körperchen und freien Nervenendigungen stimulieren – und dass wir die ­Richtung und Beschaffenheit einer Bewegung aufgrund der Verbindung zwischen Muskeln und Faszien wahrnehmen können.

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Faszien und Sport(verletzungen)

Faszien passen sich an individuelle Beanspruchungen an, beschreibt Stefan Dennenmoser in seinem Artikel „Therapie bei Verletzungen der Faszien“. So variiere die Dicke und Stabilität der Myofaszien abhängig von der körperlichen Belastung und der regelmäßigen Tätigkeit. Bei Laufsportlern finde man beispielsweise eine deutlich verstärkte ­Fascia lata, bei Rollstuhlfahrern sei die Fascia lata hingegen sehr weich. Während junge Sportler eine gesunde Vorspannung und Elastizität im Kollagenfasernetz aufweisen, so Dennenmoser, kann die Anpassung des Faszien­gewebes an Gewohnheiten, Belastungen und Bewegungsarmut genauso auch zu Dysblancen und Überlastungssyndromen führen: „Eine elastische Bewegung ist mit diesem verklebten Gewebe schwer zu realisieren, vielmehr ist es von undifferenzierten Bewegungen und ­Verletzungsanfälligkeiten geprägt.“ Die gute Nachricht liefert er gleich hinterher. „Der kollagene Verfilzungsprozess ist ­jedoch durch geeignetes Training aufzuhalten und darüber hinaus sogar reversibel.“Die häufigsten Verletzungen im Sport sind Faszienverletzungen. Wie Stefan Dennenmoser mit Blick auf aktuelle Forschungsergebnisse beschreibt, kann Muskelkater mit Entzündungen im Epimysium einhergehen, das mehr zum Schmerz beitrage als die Mikrorupturen in der Muskulatur (genauer: den z-Scheiben im Aktin-Myosin-Komplex), für die man vor den Erkenntnissen der Faszienforschung den Muskelkater verantwortlich machte. Auch Zerrungen, Faserrisse, Tendinosen, Bandrupturen und Knochenhautreizungen sowie Überlas­tungssyndrome (wie Fasziitis, Fersen­sporn und Tennisarm) seien als fasziale Verletzungen anzusehen. Mit Blick auf die Faszien machen spezielle Dehnübungen vor dem Sport wieder Sinn. So stellte man fest, dass sich der  Tonus und die Steifigkeit des Fasziengewebes über Hydrations- und Dehydrationsprozesse verändern. Man beobachtete, dass sich in Ruhezeiten, die nach Dehnungsübungen erfolgten, das fasziale Gewebe wieder mit Flüssigkeit füllt und dadurch eine höhere Steifigkeit erlangt. Eine Erkenntnis, aus der man schloss, dass es für Sportler nach einem aufwärmenden Stretching sinnvoll sein kann, eine kurze Ruhepause einzulegen, um die Stabilität des Gewebes zu erhöhen, bevor sie die sportliche Aktivität wieder aufnehmen.Dass Faszien eine eigene Form des Trainings benötigen, davon ist die Fas­cial Fitness Association überzeugt. Sie hat ein eigenes Trainingsprogramm entwickelt, dass die neuen Erkenntnisse darüber, was Faszien gesund erhält, in praktische Übungen umsetzt.

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Wo geht die Reise hin?

Die Erkenntnisse der Faszienforschung könnten schon in absehbarer Zeit die Wirkung verschiedener therapeutischer Behandlungsmethoden erklären, zu ­denen bislang wissenschaftliche Nachweise fehlen. So die Erfolge von Osteopathie, Massagen und Faszienmanipulationen durch manuelle Therapie bei zahlreichen schmerzhaften Erkrankungen. Auch Kinesiotapes könnten als ­etwas verstanden werden, das über die Faszien wirkt – nämlich über die Veränderung der Körperwahrnehmung über die Haut, die zu vorteilhaft veränderten Bewegungsmus­tern führt. Die Wirkung von Yoga  könnte durch die neue Sicht auf die Faszien neu erklärt werden. Inzwischen ist es weit mehr als ein neues Verständnis von Haltung und Bewegung, das Faszienforscher in den nächsten Jahren erwarten. Noch liegt vieles im Bereich der Vermutung, zum Beispiel die Hypothese, dass Faszien über die in ihnen enthaltenen Intero­rezeptoren auch Krankheiten wie Depressionen beeinflussen könnten. Auf dem letztjährigen Faszien-Kongress in Boston wurde diskutiert, ob Krebs mit ­einer Verdichtung und Verklebung der Faszien in Zusammenhang stehen könnten, die die Tumorzellen möglicherweise für das Immunsystem unangreifbar macht. Auch in den nächsten Jahren dürften die Faszien spannend bleiben, denn – wie Dr. Robert Schleip bei der Jahrestagung der MBO sagte: „Wir erwarten im Moment fast täglich neue Erkenntnisse der verschiedenen Faszienforschungsgruppen aus aller Welt!“

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Literatur
  • Best, Wolfgang: Faszien und Verletzungen im Fokus. Bericht vom Sportorthopädischen Symposium des SMI Frankfurt 2014, Ortho­pädieschuhtechnik 4/2014, 14 – 17.
  • Dennenmoser, Stefan: Therapie bei Verletzungen der Faszien, zkm 5/2014, 54 – 59.
  • Roggenbuck, Christian: Gefühltes Netzwerk. Das Fasziendistorsionsmodell, Orthopädie­schuhtechnik 2/2014, 20 – 25.
  • Schleip, Robert, Klingler, Werner, Lehmann-Horn, Frank: Faszien besitzen eine der glatten Muskulatur vergleichbare Kontraktionsfähigkeit und können so die muskuloskelettale Mechanik beeinflussen, Osteopathische Medizin 4/2008, 19 – 21.
  • Schleip, Robert mit Bayer, Johanna: Faszien Fitness. riva Verlag 2014.
  • Stecco, Carla et al.: Painful Connections: Densification versus Fibrosis of Fascia, Curr Pain Headache Rep 2014,18 – 441.
  • Stecco, Carla: Fascia research and proprioception: implications in sports. Vortrag auf dem 12. Symposium Function & Sport 2014.
  • Steinacker, Jürgen: Faszien im Fokus: Warum Bindegewebsverletzungen Hobbysportler ausbremsen können. uni ulm intern 321/April 2013.
  • Switala, Annette: „Das Sitzen ist das neue Rauchen.“ Bericht vom Symposium für Haltungs- und Bewegungssteuerung der GHBF 2013, Orthopädieschuhtechnik 2/2014, 16 – 18.
  • Switala, Annette: Wunderwerk Faszien. ­Bericht vom Sportmedizinischen Sympo­sium des SMI Frankfurt 2013, Orthopädie­schuhtechnik 3/2014, 22 – 24.
  • Switala, Annette: Faszien und Orthopädie­schuhtechnik. Bericht von der Jahres­tagung der MBO 2014, Orthopädieschuh­technik 11/2014, 20 – 24.
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  • Switala, Annette: Faszien und Orthopädie­schuhtechnik. Bericht von der Jahres­tagung der MBO 2014, Orthopädieschuh­technik 11/2014, 20 – 24.
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Foto: Eakrin/Adobe Stock

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