Entspannung für die Seele – Stress für den Fuß
Historisches: Stressfrakturen früher und heute
1855 wurde erstmals vom preußischen Heeresarzt Breithaupt bei deutschen Soldaten eine Stressfraktur am Mittelfuß beschrieben und als Marschfraktur bezeichnet. Unter diesem Begriff erhielt dieses Krankheitsbild Einzug in die orthopädische Literatur. Verknüpft mit dem Begriff des Marschierens bestand das Bild einer Erkrankung der Füße als Folge militärischer Langstreckenmärsche. Dieses Bild ist jedoch nicht zu halten, da Stressfrakturen beziehungsweise Ermüdungsbrüche prinzipiell an jedem entsprechend belasteten Knochen auftreten können.
Zwar ist das Bild mittlerweile überholt, aber die Marschfraktur ist auch heute noch ein Thema beim Militär. Das Wehrmedizinische Institut der Bundeswehr hatte im Zeitraum von 1998 bis 2000 alle Fälle mit der Diagnose Marschfraktur gesichtet und dabei 204 Frakturen bei 191 Soldaten festgestellt. Über die Hälfte betraf das Metatarsale 3; zirka ein Viertel das Metatarsale 2. Die Frakturen traten überwiegend in den ersten acht Wochen nach Dienstantritt auf.
Dabei machte die Marschfraktur offensichtlich auch vor politischen Grenzen nicht halt. Im Jahr 2011 wurde ein Fallbericht publiziert in der ein NVA-Angehöriger aufgrund einer Marschfraktur die Anerkennung einer Wie Berufskrankheit nach dem Sozialgesetzbuch 7 beantragte (Anm.: Neue Berufskrankheiten, die noch nicht in der Berufskrankheiten-Liste veröffentlicht sind, können unter bestimmten Voraussetzungen von der Berufsgenossenschaft „wie“ eine Berufskrankheit anerkannt und entschädigt werden).
Unentdecktes Krankheitsbild
Das Bild, dass Märsche die Ursache für Frakturen sind, könnte der Grund sein, dass die Differenzialdiagnose im Praxis-alltag nicht häufig genug gestellt wird.
Heutzutage sind nicht mehr nur durch Märsche geplagte Soldaten die typischen Patienten. Heute trifft man die Stress-fraktur gehäuft in der Sportmedizin an. Vor allem Laufsportler sind durch die monotone, zyklische Belastung betroffen und hier wiederum vermehrt die Frauen.
Die Kombination von Osteoporose, Amenorrhoe und Essstörung wird als „female athlete triad“ bezeichnet. Wenn man dann berücksichtigt, dass ein Verlust der Knochenmasse (z.B. Osteoporose) das Risiko für Stressfrakturen deutlich erhöht, erklärt sich das vermehrte Auftreten bei weiblichen Läuferinnen.
Anders als bei den Soldaten, bei denen typischerweise das Metatarsale 2 betroffen ist, findet man bei Laufsportlern Stressfrakturen überwiegend am Osnavikulare. Aber auch der Mittelfuß und die Tibia sind bei ihnen häufig betroffen. In letzter Zeit wird gehäuft von Stress-frakturen bei Profifußballern berichtet (z. B. der linke Fuß von Robert Huth [FC Middelsborough], ebenfalls der linke Fuß von Fabian Lustenberger [Hertha BSC] oder Tolga Cigerci [Hertha BSC] mit Stressfraktur rechter Fuß). Dies liegt mit Sicherheit daran, dass die Spieler heutzutage wesentlich größere Strecken im Spiel zurücklegen.
Aber auch Wanderer kommen in letzter Zeit gehäuft in die orthopädische Praxis. Als „Schreibtischtäter“ haben sie untrainiert eine lange Wanderung (Pilgern auf dem „Jakobsweg“) angetreten, damit den Bewegungsapparat mechanisch überlastet und werden nun mit Beschwerden an den Füßen vorstellig. In einer Vielzahl finden sich dann Ermüdungsbrüche als Ursache. Mit diesem Artikel soll der Fokus auf diese Differenzialdiagnose gelenkt werden, um auch die Podologen für diese Diagnose zu sensibilisieren.
Pathogenese: Was stresst den Knochen?
Eine Stressfraktur beziehungsweisereaktion entsteht als Folge einer lang andauernden, sich ständig wiederholenden Belastung des Knochens. Dabei wird im Sinne einer Materialermüdung die Toleranzgrenze des Knochens überschritten.
Der Knochen – als lebende Materie – befindet sich im ständigen Umbau durch knochenaufbauende Osteoblas-ten und knochenabbauende Osteoklasten. Somit hat er die Möglichkeit der ständigen Erneuerung, der Regeneration und – wie zum Beispiel auch die Muskulatur – zur Adaptation an Belas-tungen. Allerdings benötigt er dafür ausreichend Zeit.
Bei zu starker Belastung – ohne Pausen – kommt es zu Umbauprozessen im Sinne einer Materialermüdung. Dauerbelastungen führen zu Anpassungsvorgängen am Knochen. Wird die individuelle Belastungstoleranz durch wiederholte gleichartige Reize überschritten, finden Strukturveränderungen statt, die Stressreaktion oder Stressfraktur genannt werden.
Bei weiterer Belastung treten Mikrofrakturen auf. Der Nachweis von Knochenresorptionen ist nach 14 Tagen möglich. Periostale knöcherne Reaktionen sind nach drei Wochen erkennbar.
Klinik: Welchen Stress macht der Knochen dem Patienten
Wichtig für die Diagnosestellung ist die Anamnese. Typisch ist in der Frühphase der belastungsabhängige Schmerz, der in Ruhephasen wieder verschwindet und sich bei der Untersuchung in einem gut lokalisierbaren punktförmigen Druck- oder Klopfschmerz zeigt. Im weiteren Verlauf tritt der Schmerz immer früher nach Belastungsbeginn auf und bleibt schließlich auch in Ruhephasen bestehen, so dass er später kontinuierlich vorhanden ist. Erst jetzt kommt es auch zu Reaktionen der umgebenden Weichteile mit Schwellung, Rötung oder Überwärmung. In der Spätphase tritt eine spindelförmige Verdickung im Bereich des betroffenen Knochens auf.
Die wichtigsten klinischen Differenzialdiagnosen zur Ermüdungsfraktur sind Pathologien an den Sehnen – also die Tendopathien oder Insertionstendopathien.
Diagnostik: Dem Stress am Knochen auf der Spur
Die bildgebende Diagnostik mit Nativ-Röntgenaufnahmen ist frühestens zwei bis vier Wochen nach dem erstmaligen Auftreten von Symptomen positiv. Eine frühere Diagnostik ist nur mit einer Szintigraphie oder einem MRT möglich. Die Szintigraphie ist sehr sensitiv, aber unspezifisch. Mit ihr können bereits 72 Stunden nach Beschwerdebeginn Mehrbelegungen nachgewiesen werden. Die MRT-Untersuchung ist zur Früherkennung als Goldstandard anzusehen. Im MRT können vier Stadien unterschieden werden:
- Grad 1: periostales Ödem;
- Grad 2: periostales Ödem und Mark-ödem;
- Grad 3: Marködem in T1 und T2 gewichteten Bildern;
- Grad 4: Frakturlinie.
Die Grade 1 und 2 sind sogenannte Stressreaktionen, während es sich bei Grad 3 und 4 um Stressfrakturen handelt.
Therapie: Life-Work-(Walk)-Balance für den Knochen
Bei der überwiegenden Anzahl der Stressfrakturen ist die konservative Behandlung die Therapie der Wahl. Bei der Behandlung durch Entlastung ist von einer Ausheilung nach sechs bis acht Wochen auszugehen.
Damit ist nicht immer die vollständige Entlastung der betroffenen Extremität oder einer Fußregion gemeint. Auch eine Modifikation der Belastung durch veränderte Bewegungsabläufe kann Entlastung bedeuten. Bei Ausdauerläufern ist bekannt, dass sie durch eine Änderung der Trainingsabläufe eine veränderte Belastung erreichen können und hierunter eine Abheilung der Fraktur möglich ist.
Eine weitere Therapiemöglichkeit ist der Einsatz einer extrakorporalen Stoß-wellentherapie – wie sie auch bei Pseudoarthrosen eingesetzt wird.
Aktuell werden medikamentöse Therapieansätze verfolgt. Prinzipiell ist eine Vitamin-D3-Supplementierung sinnvoll.
Die Gabe von Bisphosphonaten, die aus der Osteoporosebehandlung bekannt sind und die Osteoklastenaktivität hemmen, scheinen – unter Berücksichtigung der Pathophysiologie der Stressfraktur – ein sinnvoller Ansatz zu sein. Die Datenlage für diese Behandlung ist allerdings noch unzureichend. Das Kalzitonin – ebenfalls ein Medikament aus der Osteoporosetherapie – hemmt die Knochenresorption, stimuliert die Osteoblasten und hat zudem schmerzlindernde Effekte. Es ist jedoch sehr teuer.
Durchblutung fördern
Ein anderer Ansatz favorisiert die Gabe von ASS, beziehungsweise Asperin, um die Zirkulation der minderdurchbluteten Areale im Bereich der Stressfraktur günstig zu beeinflussen, in dem ASS die Thrombozytenaggregation durch Hemmung der Cyclooxygenase hemmt.
Nicht alle Stressfaktoren sollten konservativ behandelt werden. Die MTK-5-Basis-Fraktur sollte beispielsweise zeitnah mit einer Zugschraubenosteo-
synthese behandelt werden, da bei Abheilung unter konservativer Behandlung ein hohes Rezidivrisiko besteht. Auch die Stressfraktur des Os navikulare am Fuß sollte operativ versorgt werden.
Für die Therapieplanung wird deshalb zwischen Niedrigrisiko-Frakturen und Hochrisiko-Frakturen unterschieden. Die Niedrigrisiko-Frakturen zeigen einen schnellen und unkomplizierten Verlauf. Hierzu zählen Frakturen am Außenknöchel, am Fersenbein, an den Mittelfußknochen 2 – 4 und am Oberschenkelschaft. Für diese Frakturen ist die konservative Behandlung die Therapie der Wahl.
Hochrisiko-Frakturen weisen ein Risiko für eine verzögerte Knochenbruchheilung und einen langwierigen Verlauf auf. Hierzu gehören die Frakturen des Oberschenkelhalses, der Kniescheibe, der Knöchel, der Sesambeine, des Sprungbeinhalses, des Os navikulare am Fuß, des proximalen fünften Mittelfußknochens sowie des Tibiaschaftes. Bei diesen Frakturen ist die operative Versorgung zu überdenken.
Fälle aus der orthopädischen Praxis
Mit der Verbesserung der Diagnostik durch die MRT und die veränderten Lebensstile (Ernährung und Bewegung) sind in letzter Zeit vermehrt Patienten mit Stressfrakturen in der orthopädischen Praxis zu sehen. Hier werden nun drei unterschiedliche Stressfrakturen beziehungsweise -reaktionen am Knochen dargestellt.
Fallbeispiel 1
21-jährige Studentin, die im Oktober 2012 vom Hausarzt wegen Beschwerden in meine orthopädische Praxis überwiesen wurde. Die Patientin wies einen BMI von 24,6 auf, gab keine Vorerkrankungen in der Anamnese an und berichtete, im Sommer den Jakobsweg absolviert zu haben. Seitdem würden die Beschwerden im rechten Fuß bestehen. Die umgehend angefertigten Röntgenaufnahmen des rechten Fußes zeigten eine Stressfraktur am Metatarsale 2 (2. Mittelfußknochen) mit schon bestehender Kalluswolke, aber noch erkennbarer Frakturlinie. Die Behandlung erfolgte durch Verordnung eines Vorfußentlas-tungsschuhes. Die Kontrollröntgenaufnahmen im November 2012 zeigten einen vollständigen Frakturdurchbau mit weiterhin bestehender Kalluswolke.
Fallbeispiel 2
Die damals 30-jährige Patientin hatte im Juli 2006 am Metatarsale 2 (2. Mittelfußknochen) des linken Fußes eine Stressfraktur erlitten. Sie heilte durch Entlastung (Post-Op-Schuh) mit einer deutlichen Kalluswolke knöchern aus. Anschließend war ein beschwerdefreies Laufen möglich. Im August 2015 stellte sich die nun mehr 39-jährige Patientin, die als Verkäuferin in einem Modegeschäft überwiegend stehend arbeitet, mit Beschwerden im rechten Mittelfuß vor. Aufgrund der Anamnese und ihrer Vorgeschichte – Stressfraktur links – wurden sofort Röntgenaufnahmen angefertigt. Diese zeigten jedoch einen unauffälligen Befund. Daraufhin wurde eine MRT-Untersuchung veranlasst bei der eine Stressreaktion am Metatarsale 2 distal metaphysär nachgewiesen wurde. Es gelang, durch Entlastung mit einem Vorfußentlastungsschuh, eine zeitnahe Schmerzfreiheit zu erreichen.
Fallbeispiel 3
32-jähriger, schlanker Student mit einem BMI von 19,2, der sich wegen seit zwei Monaten bestehender Beschwerden im rechten Kniegelenk vorstellte. Bei der Anamneseerhebung gab er an, Freizeitfußballspieler mit hoher Trainings- und Spielintensität zu sein. An ein Trauma im Rahmen des Fußballspiels konnte er sich nicht erinnern. Die Schmerzen wurden sehr umschrieben im Bereich des lateralen Gelenkspalts angegeben.
Die körperliche Untersuchung zeigte einen umschriebenen Druckschmerz unterhalb des lateralen Kniegelenkspaltes am Tibiakopf. Ein Gelenkerguss bestand nicht. Die Meniskuszeichen waren negativ; die Stabilitätstests zeigten stabile Seiten- und Kreuzbänder. Die Röntgenaufnahmen des rechten Kniegelenkes in zwei Ebenen zeigten eine Doppelkontur im lateralen Tibiakopf. Aufgrund dieser Befundkonstellation und der anamnestischen Angaben wurde eine MRT-Untersuchung des Kniegelenks durchgeführt. Diese zeigte ein Knochenmarksödem an der proximalen Tibia- und Fibulaepiphyse und am Condylus lateralis im Sinne einer Stressreaktion beziehungsweise Mikrofraktur der Spongiosa. Der übrige MRT-Befund war unauffällig.
Die Behandlung erfolgte durch Entlas-tung des Kniegelenks, durch Sportkarenz, sowie Versorgung einer Kniegelenksbandage bei weiterhin voller Belastung des Kniegelenks bei Stand und Gang. Dadurch kam es in einem Verlauf von vier Wochen zu einer deutlichen Beschwerdebesserung.